Lisbeth nackt

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Datum: 29.09.2013 | VÖ: 2013 | Herausgeber: Theodor Schmidt | Kategorie: Hörbuch

"Der Mensch ist die Summe seiner Erfahrungen", so lautet ein schönes und wahres Sprichwort. Zu diesen persönlichen Erfahrungen, die man jeden Tag erwirbt, gehören - gerade in der Kindheit - viele weitere Aspekte, die man von den Eltern, Großeltern und seinem sonstigen Umfeld mitbekommt. Auch diese Verhaltensweisen usw. resultieren aus Erfahrungen, die die Eltern und Großeltern selbst in ihrem Leben für sich gewonnen haben - oder eben wiederum von ihren Eltern, Großeltern usw. anerzogen bekamen. Alles, was wir also sind und tun, hängt eng mit unseren Erfahrungen, unserem Umfeld, mit den Vorfahren, mit der Gesellschaft und mit der Kultur zusammen. Aus diesem Grund sollte man historische Zusammenhänge niemals außer acht lassen, egal um was es dabei geht. Ein weiteres dazu passendes Sprichtwort heißt: "Wer keine Vergangenheit hat, hat auch keine Zukunft".

Wenn man in der heutigen Zeit in die jüngere Vergangenheit schauen möchte, gibt es dazu viele Möglichkeiten. Bücher, Filme, Audioaufnahmen, eigene Erinnerungen und Erzählungen von Verwandten und Bekannten. Wenn man etwas weiter zurück geht, in die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts, so wird es schon etwas schwieriger. Denn die Zeitzeugen sterben aus. Was bleibt und was auch sehr wertvoll ist, sind die zahlreichen Filmaufnahmen, Fotos, Tonmitschnitte und andere Zeugnisse dieser Zeit.

Geht man noch einmal 50 Jahre zurück, gibt es vielleicht noch Fotos oder ganz selten Tonaufnahmen, aber mehr nicht. Keine Zeitzeugen, keine Filmaufnahmen und keine Erinnerungen. Außer sie wurden über mehrere Generationen hinweg überliefert und sind dann nicht selten entsprechend verfälscht worden. Was bleibt? Einerseits die Archäologie, die selbst nur grobe Zusammenhänge aufzeigen kann. Andererseits - und das sind wohl die wichtigsten geschichtlichen Zeugnisse - Handschriften. Briefe, Chroniken, Tagebücher und Notizen. Gerade Briefe und Tagebücher, in denen die Autoren ihre persönlichen Gedanken und Erfahrungen niederschreiben, haben einen historisch unschätzbaren Wert. Während in den großen Archiven und Museen in erster Linie offizielle Dokumente erhalten sind, findet man die privaten Aufzeichnungen - gerade die des kleinen Mannes - in erster Linie in privaten Haushalten. Man findet sie auf Dachböden, im Keller, in Omas Schublade oder in Privatsammlungen. Hier darf man nicht daran denken, wie viele dieser Aufzeichnungen durch Krieg, Achtlosigkeit und Entrümplungen schon vernichtet wurden. Denn in der Regel handelt es sich um unwiederbringliche Unikate.

Neben diversen staatlichen Archiven gibt es zahlreiche Privatsammler, die diese Handschriften archivieren. Einige dieser Sammler werten diese Dokumente auch aus, um sie auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und um diese wertvollen Inhalte auch dauerhaft für die Nachwelt zu bewahren.

Einer dieser Sammler ist Theodor Schmidt aus Berlin. Der Germanist fand Anfang des Jahrtausend auf einem Flohmarkt zufällig ein altes Tagebuch und war direkt begeistert von diesem Dokument. Es war unvermeidlich, dass sich aus diesem Fund eine Leidenschaft entwickelte. Schmidt sammelte weitere Tagebücher und war fasziniert von den unverfälschten Niederschriften der jeweiligen Autoren. Inzwischen handelt er sogar mit alten Handschriften. Er stöbert sie auf, wertet sie aus und verkauft die meisten Stücke wieder an entsprechende Heimatsammler und andere Interessierte. Die besonders gut geschriebenen Tagebücher, die interessante Geschichten und Schicksale erzählen, präsentiert er bei Lesungen. Inzwischen hat er schon einige Lesungen auf CD aufgenommen und verkauft sie als Hörbuch.

Ein ganz besonderer Fund war das Tagebuch von einem Oskar aus dem Jahr 1890. Erworben hat er es im April 2005 von einer privaten Verkäuferin aus Chemnitz, die die Inhalte des Tagebuches nicht kannte und nicht entziffern konnte. Dabei sind die Inhalte des damals 27jährigen Studenten sensationell. Denn Oskar hat etwas nieder geschrieben was in dieser Zeit sonst kaum jemand gewagt hätte nieder zu schreiben. Er hat ein Verhältnis mit Lisbeth, der Tochter seiner Zimmerwirtin. Hinzu kommt, dass er sie heimlich durch ein Guckloch beim Waschen beobachtet. Tag für Tag beschreibt er, was er sieht. Der für ihn fremde Frauenkörper fasziniert ihn. Bildlich schreibt er nieder was er sieht und was er denkt. Es ist wie ein großes Abenteuer für ihn. Denn Lisbeth ist sonst auch sehr aufgeschlossen. Schließlich darf er sie küssen und sie oben herum nackt sehen und sogar anfassen. Er nutzt jede Situation aus, ihren Körper zu erkunden. Er selbst legt jedoch recht arrogante Züge ihr gegenüber an den Tag. Denn Lisbeth ist recht naiv und das nutzt er aus. So erinnert er sie z.B. immer wieder dran, dass sie sich waschen muss, damit er wieder etwas zu sehen hat. Das heimliche Beobachten trägt natürlich auch einige Risiken mit sich. Das Guckloch könnte gefunden werden. Oder er selbst sogar auf frischer Tat ertappt werden. So befürchtet er bei einem Unwetter während seines heimlichen Beobachtens vom Blitz getroffen zu werden, um dann während dieser unsittlichen Tätigkeit gefunden zu werden.

Auch von Oskars Alltag und seinem Umfeld erfährt man einiges, doch Lisbeth und ihre weiblichen Rundungen sind der Mittelpunkt von Oskars Interesse und somit auch von seinem Tagebuch. So darf man meistens seinen Beobachtungen und seinen Gedanken lauschen, was sich so anhört: "Es war ein fast blendender, berückender, zündender und doch auch wieder sehr hoher, reiner Anblick. Wenn ich auch nicht den ganzen Körper sah, so hatte ich doch so ziemlich den Eindruck des Ganzen, und dieses war und ist wirklich ein ganz kolossaler Eindruck. Er nahm total gefangen".

Theodor Schmidt, der Finder und Bewahrer dieser Niederschrift, ist nicht nur der Interpret der (meist) in Berlin stattfindenden Lesungen des Hörbuches, sondern auch der Sprecher der Studioaufnahme. Und das macht er sehr gut. Trefflich trägt er die Zeilen aus Oskars Tagebuch vor, sodass man sich gut in die Geschichte vertiefen kann. Die Begeisterung und Leidenschaft die in den Zeilen zu finden sind, überträgt er stimmungsvoll und authentisch. Theo ist jedoch kein ausgebildeter Sprecher, was man auch hört. Aber genau das macht irgendwo auch den Reiz und die Authentizität aus. Denn auch Oskar war ein einfacher junger Mann seiner Zeit und seine naive Art und Weise wird dadurch passend vorgetragen. Die Aufnahmequalität des Hörbuches ist gut.

Das Hörbuch selbst besteht aus 3 CDs. Wie lange die Gesamtlaufzeit ist, wurde leider nicht mit abgedruckt. Ich denke aber, dass es nahezu drei Stunden Laufzeit sein dürften. Ein wenig schade ist, dass die drei CDs selbst hergestellt wurden. Sie wurden selbst gebrannt, dafür aber liebevoll bedruckt und in der CD-Hülle befindet sich ein Titelbild und auf der Rückseite die wichtigsten Informationen zu diesem Werk. Das Ganze ist sehr liebevoll gestaltet, was den Reiz an dieser unterstützenswerten Eigenproduktion ausmacht. Bei großen Hörbuchverlagen hätte ein solch außergewöhnliches Projekt wohl keine große Chance gehabt.

Über Oskar und seine Gedanken könnte man ganze Bücher schreiben. Deswegen ist es mir kaum möglich, in dieser Rezension passend darauf einzugehen. Deswegen kann ich nur empfehlen, das Hörbuch einmal selbst anzuhören. Es ist uneingeschränkt hörenswert. Wie eine Zeitreise in das vorletzte Jahrhundert kommt man sich dabei vor. Hinzu kommt der außergewöhnliche Inhalt, der in dieser Form nicht wieder zu finden ist. Es ist spannend und interessant, was ein junger Mann dieser Zeit über Frauen, Liebe und das Leben dachte. Und wie er es formuliert. Man merkt, dass die Menschen in diesen Jahren auch nicht anders waren als die Menschen heute. Nur die Umstände haben sich geändert.
Die drei Stunden können sich an manchen Stellen auch etwas ziehen, weil sich Oskar immer wieder in seinen ausführlichen Beschreibungen und Gedankengängen verliert. Aber genau diese Grenzenlosigkeit ist spannend und hebt sich ab von vielen fiktiven oder eher knapp und kurz gehaltenen Zeitzeugnisse aus jenen Jahren.

Lisbeth nackt - Hörprobe

(sk)

Wertung: 8 von 10 Punkten (8 von 10 Punkten)

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