Schwesterherz

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Datum: 22.06.2008 | VÖ: 19.06.2008 | Herausgeber: EuroVideo | Kategorie: Film

Benidorm ist eine Stadt an der spanischen Küste in der Nähe von Alicante. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie nach Manhattan die meisten Wolkenkratzer pro Quadratmeter hat. In dieser Betonwüste direkt am Meer machen Anne und Marie zusammen Urlaub. Die beiden Schwestern trennt ein Altersunterschied von 15 Jahren und sind auch sonst so unterschiedlich, wie Schwestern nur sein können.
Anne ist 35 und Musikproduzentin. Sie entspricht genau dem modernen Frauenbild der Frauen, die nun in den 30ern stecken: jung, dynamisch, erfolgreich. Und dabei todunglücklich, da sie auf dem Weg dorthin irgendwo ihre Ideale verloren hat. Dabei hat sie ein tolles Leben: Eine erfolgreiche Karriere, ein trendiges Loft, einen hippen Freund und viele coole Freunde.
Das denkt zumindest Marie, Annes kleine Schwester. Sie ist das Alter Ego von Anne. Sie ist genau so, wie Anne mit 18 auch war: fröhlich, ein bisschen naiv, unverbraucht und noch voller hochtrabender Ideale. Sie glaubt noch an die wahre Liebe, möchte irgendwann in Afrika arbeiten und dort Brunnen bauen und die Welt ein bisschen besser machen.

In einem Anflug von geschwisterlicher Liebe lädt Anne Marie zu einem gemeinsamen Urlaub ein. In dieser Zeit erkennt Marie, dass ihre große Schwester eben nicht so cool und warmherzig ist, wie sie geglaubt hat, sondern ziemlich einsam. Anne hingegen erkennt in ihrer kleinen Schwester die Werte, die ihr im Laufe der Jahre durch viele Enttäuschungen abhanden gekommen sind. Als sich ihr Freund dann auch noch als oberflächliches Arschloch zu erkennen gibt und sich ein Mann zwischen die Schwestern schiebt, baut sich bei Anne der Frust auf und es kommt zum Streit.

Heike Makatsch, die das Drehbuch zu diesem Frauenportait schrieb, und ihre Co-Autorin Johanna Adorján wollten diesen Film in einem beschaulichen mallorquinischen Bergdorf spielen lassen. Die Idylle einer solchen Kulisse hätte aber nicht in die Vorstellung von Regisseur Ed Herzog gepasst. Dieser brachte den Vorschlag, die Geschichte in der überstylten und trostlosen Betonwüste Benidorm spielen zu lassen und keine andere Kulisse hätte das Seelenleben von Anne besser widerspiegeln können.
Genauso wie diesem modernen Babylon sind auch Anne die Zuschauersympathien nicht sicher, da sie eine überdrehte, rastlose, manchmal sehr ungerechte Person ist, die die Unzufriedenheit an ihrem Leben an anderen auslässt. Damit ging Heike Makatsch ein Wagnis ein, da man sie bisher in solch einer Rolle nie gesehen hat und der Zuschauer sich mit ihr als Hauptfigur sicherlich nicht freiwillig und auf keinen Fall sofort identifizieren wird. Viel leichter hat es hingegen Anna Maria Mühe (hier an dieser Stelle sei kurz erwähnt: Ja, sie ist die Tochter von Ulrich Mühe). Ihre Figur der Marie stellt von Anfang an einen Gegenpol zu Anne dar: Sie ist idealistisch, träumerisch, sympathisch. Anna Maria Mühe spielt sie hervorragend und steht zu keinem Zeitpunkt im Schatten von Heike Makatsch.

Für Makatsch bildet dieser Film aber noch in anderer Hinsicht Neuland. Zum ersten Mal stand sie nicht nur als Schauspielerin vor der Kamera, sondern schrieb zusammen mit Filmjournalistin und Freundin Johanna Adorján das Drehbuch. Auch wenn der Plot des Filmes sehr schnell zu erkennen ist " zwei gegensätzliche Frauen in einer angespannten und krampfhaften Situation, die irgendwann zwangsläufig zur Eskalation führt und deren Hög
hepunkt den Wendepunkt der Geschichte darstellt, was zur Läuterung einer der Hauptfiguren führt " zeichnet der Film ein äußerst sensibles Portrait der heutigen Frau Mitte 30. Die Beobachtungen, die beide Frauen immer wieder über ihre eigenen Personen und Frauen in ihrem Alter gemacht haben, fassten sie in einem stimmigen Buch zusammen.

Der Charakter der Anne zeichnet das Bild der selbstbewussten Karrierefrau als DAS Frauenbild des neuen Jahrtausends. Das verstaubte "Hausfrauen und Mutter"-Image der 50er hat lange ausgedient, dennoch scheinen Frauen in den 30ern nicht gerade glücklich zu sein mit diesem neuen Image. Härte, Coolness und Selbstbewusstsein als neue Ideale der modernen Frau? Der Druck, immer stark und erfolgreich im Beruf, eine coole Partnerin und fröhliche Freundin zu sein, lässt sich für viele nicht ertragen. Auch Anne zerbricht daran, für die Karriere und die Kollegen ständig und überall per Handy erreichbar zu sein, alles im Griff zu haben und dennoch keinen Gedanken an die Zukunft und an Kinder und Familie verschwenden zu dürfen, weil der ach-so-coole Musikerfreund so eine spießige Freundin nicht an seiner Seite haben möchte. Besonders das Medienbusiness mit seinen dauergrinsenden, aber wahnsinnig oberflächlichen Menschen und deren Mechanismen wird in diesem Film äußerst realistisch dargestellt.

Kameramann Sebastian Edschmid gelang es, diese Stimmung und diesen seelischen Kern Annes auch in Bilder umzusetzen. Das kalte Benidorm mit seinen geometrischen Formen tut sein übriges. Der Film wird von den Farben Grau und Blau beherrscht und erzeugt so eine bedrückendes Unwohlsein und Beklemmungen. Überblendungen und teilweise unscharfe Einstellungen unterstützen Annes Zustand.

Einziger Minuspunkt dieses Films ist das etwas zu leicht durchschaubare Drehbuch und eine an manchen Stellen zu plakative Erzählweise, die nicht darauf verzichtet, uralte Klischees auszugraben (nicht alle Medienfuzzis koksen!!!).

Die DVD selbst enthält nicht viele Extras, was meiner Meinung nach aber überhaupt nicht schlimm ist. Neben einem Kinotrailer gibt es noch jeweils ein Interview mit Ed Herzog und Heike Makatsch. Eigentlich bin ich kein Freund solcher Interviews, da sich die meisten eh nur darum drehen, das dieser Film der beste ist, der bisher gemacht wurde, sich alle am Set wunderbar verstanden haben und zu einer großen, glücklichen Familie geworden sind. Diese beiden Interviews zeigen aber den Regisseur und die Drehbuchautorin/Schauspielerin genau so, wie sie sind: Sie erzählen von den Highlights, aber auch den Schwierigkeiten so offen und ehrlich, dass man ihnen jedes Wort abnimmt und genau das macht den Film noch mal so wertvoll.

Schwesterherz ist ein einfühlsamer und auch eher ruhig erzählter Film, der einen Zustand beschreibt, der manch einer der "modernen Karrierefrauen" sicherlich bekannt vorkommt: Die Karriere, den Erfolg, den Jugendwahn und dem Spagat zwischen den Erwartungen anderer und einem selbst.
(sak)

Wertung: 8 von 10 Punkten (8 von 10 Punkten)

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