Ludwig Thoma's Lausbubengeschichten

Als der bayrische Schriftsteller Ludwig Thoma im Jahr 1921 am Tegernsee starb, feierte der deutsche Film seine erste große Blüte. Diese Jahre waren geprägt von den Folgen des 1. Weltkriegs, von den Bürden des Versailler Vertrages, von der aufkommenden Inflation, von Hunger, Not und Leid. In den Lichtspielhäusern machte sich eine surreale Parallelwelt breit, die ein Abbild der geschundenen und zermürbten deutschen Seele war. Der Schrecken des Krieges war noch lange nicht überwunden und an eine Zukunft war mit den Lasten von Versailles im Rücken nicht zu denken. Wenn im Jahr 1920 ein deutscher Soldat, oftmals mit fehlenden Gliedmaßen, an einer Litfaßsäule vorbei ging, erblickte er nicht selten die Aufschrift „Du musst Caligari werden!“. Der Expressionismus war wie eine künstlerische Metapher auf den Scherbenhaufen der vom Deutschen Kaiserreich übrig geblieben ist. Jahrzehnte hinweg brachte diese Epoche wie beflügelt eine ungeahnte wirtschaftliche und kulturelle Blüte hervor, die ihre ganze Kraft im großen Krieg auf das Militär konzentrieren musste und im Jahr 1919 ein jähes Ende nahm.


Ludwig Thoma lebte und litt diese Zeit mit. Während er während den Friedensjahren eher dem linken Spektrum zugeordnet werden musste, erfasste ihm im Kriege der Patriotismus, der im Zuge der Nachkriegsjahren bis in den Antisemitismus mündete. In den Jahren vor dem Krieg war Thoma ein aufmerksamer Beobachter, schaute den Menschen „aufs Maul“ und konnte ihnen wie kaum ein anderer den Spiegel vorhalten. Er ließ sich nicht blenden vom Glanz der Epoche, er schaute hinter die Kulissen, prangerte Missstände an, verurteilte die vorherrschende scheinheilige Moral, den biederen Spießbürger mit seinem übertriebenen preußischen Ordnungssinn und den Dünkel jener Zeit.


Im Jahr 1905 veröffentlichte er seine „Lausbubengeschichten“, was zu seinem bekanntesten Werk werden sollte. Die amüsanten Kurzgeschichten handeln vom jungen Ludwig, der die Doppelmoral und Verlogenheit der Erwachsenenwelt durchschaut und ihnen mit seinen Streichen so manches Schnippchen schlägt. Die Geschichte wurde zu einem einzigartigen Sittengemälde Bayerns zur Zeit Wilhelms II.


Zwar wurden in der Zeit vor dem Krieg schon viele literarische Stoffe für die Lichtspielhäuser filmisch umgesetzt, Geschichten von Ludwig Thoma wurden erst spät für die Kinos entdeckt. Mit dem Lustspiel „Moral“ im Jahr 1928 konnte nur ein Werk von Thoma Einzug in die Stummfilmära halten, was nicht verwunderlich ist. Denn die Stärke seiner Stücke liegt im gesprochenen Wort. Der Dialekt, die bissigen Untertöne und der Wortwitz kann nur im Tonfilm zur Geltung kommen. Auch Karl Valentin feierte erst in diesen Jahren seine großen Filmerfolge. Der Tonfilm und die 30er Jahre bedienten sich schon etwas stärker beim bayrischen Volksschriftsteller, viele Filme wurden es aber noch nicht.


Neben Joe Stöckel gehörte Franz Seitz Senior zu den wichtigsten Regisseuren von bayrischen Stoffen im frühen deutschen Film. Ab der Zeit während des 1. Weltkrieges sammelte Seitz, der selbst aus einer bayrischen Volkstheaterfamilie entstammt, erste Erfahrungen im Filmgeschäft. Doch zeit seines Lebens kam es nicht dazu, dass er sich einem Stoff von Ludwig Thoma widmete. Sein Sohn Franz Seitz junior ging ebenfalls ins Filmgeschäft, jedoch in erster Linie als Produzent und Drehbuchautor. Viele seiner Filme, die er ab den frühen 50er Jahren produzierte, waren bayrische Stoffe, aber auch literarische Werke gehörten zu seinen Vorlieben. Dass er bei dieser Mischung an Thoma nicht vorbei kam, liegt auf der Hand. Dennoch dauerte es bis 1964, bis er sich an Thoma heran wagte und seine „Lausbubengeschichten“ erstmals auf die große Leinwand brachte.


Dass das kein leichtes unterfangen war, ist klar. Nicht nur, dass ein Ludwig-Thoma-Stoff eine anspruchsvolle Angelegenheit war, die man nicht einfach mal so auf die Leinwand zauber kann, sondern bei den „Lausbubengeschichten“ benötigte man zusätzlich noch ein Kind als Hauptdarsteller, das erst einmal gefunden werden muss.


Das erste Problem war schnell gelöst, denn Seitz war ein hervorragender Drehbuchautor und schaffte es im Laufe seiner Karriere aus manch guten Romanen, ein ebenbürtiges oder gar besseres Drehbuch zu zaubern, was bei anderen Filmvorhaben in den meisten Fällen sonst genau anders herum geschieht. Für die Regie verpflichtet er niemand geringeres als Helmut Käutner, der zu den besten seines Faches gehörte und unter anderem mit „Der Hauptmann von Köpenick“ im Jahr 1958 wieder einmal bewiesen hat, dass er sowohl historische als auch literarische Stoffe mit großem Feingefühl und viel Können umsetzen kann.


Das zweite Problem war der kleine Hauptdarsteller, der noch gefunden werden musste. Dass das am Ende ein waschechter Preuße werden sollte, hat zu Beginn wohl niemand geahnt. Denn Hansi Kraus heißt eigentlich Krause und ist im oberschlesischen Gleiwitz zur Welt gekommen. Erst im Jahr 1958 kam der Junge nach München. In Giesing lernte er schnell den bayrischen Dialekt und als seine Mutter und Großmutter in der Münchner Abendzeitung gelesen haben, dass ein Doppelgänger des Thoma-Lausbuben gesucht wird, legten sie ihm ans Herz, eine Bewerbung zu schreiben. Gesucht wurde ein zwölf- bis dreizehnjähriger Junge, der Haare wir Kraut besitzt, massiv ist, stupsnasig, übermütig, von bayerischer Mundart und er solle natürlich auch Zigarettenraucher sein. Viele dieser Voraussetzungen trafen auf den kräftigen Jungen zu.


Im Augustiner in München versammelten sich die Knaben, die aufgrund ihrer Bewerbung zu dieser Zusammenkunft eingeladen wurden. Es gab Leberkäs zu essen, Bier zu trinken und Zigarren zu rauchen. Krause mochte weder Bier noch Zigarren, so widmete er sich dem Leberkäs. Als er sah, wie verschiedene Jungs aufgefordert wurden ihre Daten abzugeben und er nicht darunter war, packte ihm der Ehrgeiz und so meldete er sich ebenfalls, obwohl er eigentlich nicht zur engeren Auswahl gehörte. Später führte kein Weg mehr an ihm vorbei, denn Helmut Käutner war sich sicher mit dem Jungen den richtigen Hauptdarsteller gefunden zu haben. Aussehen und Dialekt passte einwandfrei und eine weitere wichtige Tatsache spielte eine große Rolle: Krause hatte keine Scheu vor der Kamera. Innerhalb seiner Familie wurden schon viele Privatfilme gedreht, sodass er seine Natürlichkeit nicht verlor, sobald die Kamera lief.


Dass Krause nur aufgrund seines authentischen lausbübischen Wesens weiter in der Auswahl vorrückte und letzten Endes diese Rolle bekam, waren den Filmemachern zu Beginn nicht bewusst. So konnte keiner ahnen, dass Streiche während der Dreharbeiten zu den „Lausbubengeschichten“ nicht nur vor der Kamera, sondern auch hinter der Kamera stattfinden und das den Produktionsverlauf an vielen Stellen spürbar bremste. Nachdem Krause am ersten Tag der Dreharbeiten, die meistens im bayrischen Beuerberg stattfanden, noch wie seine erwachsenen Kollegen behandelt wurde und dem Knaben schon in dieser frühen Phase die Lust verging, gab es die Ansage, den jungen Hauptdarsteller mit Samthandschuhen anzufassen, damit seine Spielfreude und Authentizität vor der Kamera nicht verloren geht. Dies war ein Freifahrtsschein für den Lausbuben und so wurden die Dreharbeiten, die während den Sommerferien stattfanden, zu einem großen Spaß für ihn, während es für die Filmmannschaft und den Schauspielern große Anstrengungen zur Folge hatte. Damit das Ganze nicht vollkommen aus dem Ruder läuft, hat man seinen Großvater mit dazu genommen, damit er ein wenig auf den Knaben aufpasst.


In diesem Film wirkten viele große Namen mit, wie Elisabeth Flickenschildt, Carl Wery, Michl Lang, Rudolf Rhomberg, Rosl Mayr, Beppo Brem, Georg Thomalla, Harald Juhnke, Ernst Fritz Fürbringer, Balduin Baas und Franz Muxeneder. Auch namhafte Nachwuchsschauspieler wie Heidelinde Weis, Pierre Franckh, michael Verhoeven oder Renate Kasche waren beteiligt.


Die Uraufführung fand am 15. Oktober 1964 in dreifacher Form statt: Am Tegernsee, in den Münchner Rathaus-Lichtspiele und am Sendlinger Tor in München. Es war ein großes Aufgebot mit viel Reklame, Trachten und großen Kutschen. Dem kleinen Hauptdarsteller fiel dabei auf, dass sein Name falsch auf den Plakaten geschrieben war: Nicht Hans Krause, sondern Hansi Kraus. Dies wurde zuvor vom Produzenten Franz Seitz abgeändert, da schließlich der Darsteller des bayrischen Nationaldichters Ludwig Thoma keinen preußischen Namen tragen könne. Hinzu kam noch ein weiteres ihm bislang unbekanntes Phänomen: Das Schreiben von Autogrammen. Er hat nicht verstanden, warum er das tun soll, doch er fügte sich seinem Schicksal. Es dauerte nicht lange, bis er eine erste Rüge bekam, denn er schrieb seinen richtigen Namen „Hans Krause“ auf die Karten. Auch hier musste sich der Nachwuchsschauspieler fügen und so war der Künstlername Hansi Kraus geboren, der in den Jahren darauf noch für viel Aufsehen sorgen sollte. Denn der „Lausbubengeschichten“-Film war ein so großer Erfolg, dass er bis in das Jahr 1969 hinein noch vier weitere Filme nach sich zog. Der Lausbübelei blieb Hansi Kraus treu, denn nach den „Lausbubengeschichten“ folgte ab 1968 die nächste erfolgreiche Lausbuben-Filmreihe: „Die Lümmel von der ersten Bank“, die es sogar auf 7 Filme bringen konnte und Hansi Kraus zu einem umfeierten Star an der Seite von Legenden wie Theo Lingen und Rudolf Schündler werden ließ.


Für die Premiere der „Lausbubengeschichten“ konnte man einen ganz besonderen Gast gewinnen: Maidi Liebermann, die letzte Geliebte und die Erbin von Ludwig Thoma. Sie war von der filmischen Umsetzung der Geschichte positiv angetan und sagte nach der Premiere, dass Thoma sich die Verfilmung dieses Stoffes genau so gewünscht hätte. Ein größeres Lob für eine Literaturverfilmung kann es kaum geben. Der Erfolg und die bis heute andauernde Beliebtheit gibt dem Film recht und so reiht er sich ein in die Liste der großen deutschen Filmklassiker, die aufgrund ihrer zeitlos guten Qualität das Publikum auch noch in vielen Jahren begeistern wird.


Autor: Sebastian Kuboth
Eine abgewandelte Form des Textes wurde im Beiheft der damaligen DVD-Veröffentlichung abgedruckt.

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