Capriccio (D, 1938)

  • In einem alten Brief habe ich wieder eine zeitgenössischen Text über einen alten deutschen Film entdeckt. Darin schreibt der Schreiber einen Freund ein Zitat, das man hier finden kann:


    http://www.geschriebene-geschi…-1945/1937-1939-filme.htm


    Ich hoffe ich habe alles richtig gelesen, da die Handschrift etwas karg ist. Bei imdb.com ist der Film mit 2,8 von 10 Punkten ebenfalls schlecht bewertet. Kennt den Film jemand von Euch?

    "Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen."


    Konfizius

  • Die Meinungen scheinen auseinander zu gehen, aber für mich ist es eine wirklich außerordentliche musikalische Komödie (im Wortsinne: es wird hier fast durchgehend gesungen). Lilian Harvey spielt die Hauptrolle in diesem von Karl Ritter gedrehten Film, der für diesen Regisseur sehr ungewöhnlich ist, weil es eben ein ausgesprochen 'artifizieller' Film ist und erstaunlich viel 'Weimarer Geist' hat. Wenn man's nicht besser wüßte, würde man vermutlich eher auf einen Reinhold Schünzel-Film tippen. Die operettenhafte Handlung ist eigentlich Nebensache, denn letztlich ist der Film schon so eine Art 'exercise in style'. Das muß man nicht mögen, aber anerkennen. Meine Wertung: 8 (+1 wegen Lilian Harvey, die hier zum letzten Mal wirklich eine tolle Rolle hat)= 9 von 10 Punkten.

  • Lilian Harvey in ner Hosenrolle. Man merkt auch, dass dem Regisseur Karl Ritter dieses Genre überhaupt nicht liegt. Die Zuschauerreaktionen von damals fielen fast durchgehend negativ aus. Auch bei Goebbels, Hitler und der Presse rasselte der Film unten durch. Note von 1-10: 4 Noch schlechter ist meiner Meinung nur "Fanny Elßler"...


    "Mein wichtigstes Lebensmotto war immer: Treue. Auch mir selbst gegenüber."
    (Heinz Rühmann, 1902-1994, Schauspieler)


  • Ich finde ,einer der schlechtesten Filme der UFA -Zeit , Karl Ritter lag dieses Genre überhaupt nicht und ich kann die damaligen ablehnenden Reaktionen
    nachvollziehen , ein kurioser Mix aus Musical und Kostümfilm ,wobei auch Harveys Hosenrollle nichts retten kann.
    Wir hatten ja hier schonmal das Thema " schlechteste Filme " und da hab ich "Capriccio " schon genannt . Ich mag Filmoperetten wie " Das Blaue vom Himmel " (1932) oder " Mach mich glücklich " von 1935 , aber dieser Lilian Harvey Film ist einfach nur schlecht .

  • Könnte es sein, daß die negativen Reaktionen zum Teil dadurch bedingt sind, daß der Film so ganz anders ist als man für jene Zeit erwarten würde? Auf jeden Fall scheint "Capriccio" für einige heutige Autoren durchaus interessant zu sein. Antje Ascheid etwa widmet der Analyse des Films in ihrem Buch "Hitler's Heroines: Stardom and Womanhood in Nazi Cinema" zehn Seiten, und schreibt unter anderem:


    "Nonetheless, the film constituted an astonishing aberration from what was otherwise acceptable in Nazi cinema. Its utter lack of respect toward almost any marker of traditional values and its technique of deriving comic energy from ridiculing virtually every public institution not only thoroughly overstepped the limits of the traditional burlesque, but also exhibited a radical farcical anarchy that was fundamentally antiauthoritarian. The film was a provocation, proposes Karsten Witte, not only in its distance from the everyday production standards of 1938, but also in its "flagrant violation of what was considered in good taste, in its overstepping the norm, and ... in its falling short of this norm unpunished."


    Und tatsächlich: wie da unterschiedliche (auch musikalische) Stile 'falsch' miteinander verbunden werden, wie der Film in karnevalesker Manier in beständigen Übertreibungen und Absurditäten agiert, das wirkt auf mich sehr erstaunlich. Heute würde man das wohl 'postmodern' nennen, damals war's sicherlich ein Unding, erst recht für Goebbels und dessen Vorstellung, was 'deutscher Humor' zu sein hatte.

  • Das siehst du natürlich richtig, aber es wäre nun wirklich nicht der einzige Film, der beim ursprünglichen Publikum durchgefallen ist und dann von späteren Generationen hochgeschätzt wurde. Das wird bei "Capriccio" auf breiter Ebene wohl nicht geschehen, dafür ist der Film viel zu unbekannt und sicher auch nicht wie andere solche Beispiele eine Vorwegnahme späterer Strömungen der Filmgeschichte. "Capriccio" ist halt bloß auf interessante Art und Weise 'anders'.

  • Das siehst du natürlich richtig, aber es wäre nun wirklich nicht der einzige Film, der beim ursprünglichen Publikum durchgefallen ist und dann von späteren Generationen hochgeschätzt wurde. Das wird bei "Capriccio" auf breiter Ebene wohl nicht geschehen, dafür ist der Film viel zu unbekannt und sicher auch nicht wie andere solche Beispiele eine Vorwegnahme späterer Strömungen der Filmgeschichte. "Capriccio" ist halt bloß auf interessante Art und Weise 'anders'.

    Auf jeden Fall macht die von dir zitierte Interpretation Lust darauf, den Film mal zu sehen, zumal ich den meisten dieser Gesangs- und Revue-Streifen nicht allzu viel abgewinnen kann. Es wäre interessant zu erfahren, was Ritter zu diesem Experiment bewog; er war ja auf militärisch-patriotische Stoffe praktisch festgelegt. 1939 soll Goebbels Ritter dazu bestimmt haben, nur noch militärische Filme zu drehen - dieser Zustand hielt dann an bis Besatzung Dora - ein unglaublicher schlechter Film, der dann auch gleichzeitig das Ende der Wehrmacht-spielfilme signalisierte.

  • "Besatzung Dora" hat bei imdb.com eine Bewertung von 8,9 von 10 Punkten. Da haben wohl ein paar Leute von Grundauf 10 Punkte verteilt, weil es ein deutsch-patriotischer Stoff ist...?!

    "Es ist besser, ein einziges kleines Licht anzuzünden, als die Dunkelheit zu verfluchen."


    Konfizius

  • @Sebastian: Bei IMDB wird sogar Die Rückkehr der Jedi-Ritter höchstklassig bewertet :)
    Meiner Meinung nach unterbietet Besatzung Dora auch Stukas, Wunschkonzert und die ganzen anderen schwer erträglichen Kasernen- und Militärstreifen dieser Zeit.

  • D'accord, was die 'Kasernen- und Militärstreifen' angeht. Umso erstaunlicher, daß "Capriccio" ausgerechnet von Ritter stammt.


    Es wäre interessant zu erfahren, was Ritter zu diesem Experiment bewog; er war ja auf militärisch-patriotische Stoffe praktisch festgelegt.


    Hans Borgelt ("Das süßeste Mädel der Welt - Die Lilian Harvey Story") schreibt, daß "Capriccio" eine Art 'Traumprojekt' von Ritter war. Ritter war jedenfalls damals damit beschäftigt, die René Clair-Filme in deutscher Fassung herauszubringen. Und Antje Ascheid schreibt dazu:


    "Ritter's unrestrained approach to the material was certainly a surprise for a director whom Karsten Witte sees as more instrumental to the establishment of militant Nazi pictures than Hans Steinhoff or Veit Harlan. [...]
    What Ritter envisioned in this project was a German film in the style of Rene Clair, with whom he had worked in Paris seven years earlier; he saw Lilian Harvey as especially suitable for the part he had created. In retrospect he wrote: 'Lilian Harvey fit the Rene-Clair-style exactly, she was so different from the other romantic heroines, fairy-like, almost unreal, the embodiment of grace and refinement, sprung forth from a playful artist's mood, the born little columbine of the commedia dell' arte, a tiny figurine of the rococo shepherd games, a Botticelli angel of tender, soulful beauty, she was an artwork one could enjoy without erotic desire.' "


    Ich denke, Ritter hat nicht nur in Bezug auf Lilian Harvey recht, sondern liefert hier auch eine gute Beschreibung seines Films im Ganzen. Der Film hat alle Künstlichkeit und Verspieltheit des Rokoko, gepaart aber auch mit der ebenfalls dem 18. Jahrhundert nicht fremden Respektlosigkeit. Vielleicht könnte man ihn auch als 'art for art's sake' beschreiben...

  • Zu "Besatzung Dora":



    Karl Ritter-Filme waren anscheinend eine Familienangelegenheit. ;)
    Obwohl der Regisseur am meisten bei den Vorbehaltsfilmen vertreten ist (mit neun Filmen), kennt ihn heute kaum jemand mehr. Er hat auch nicht nur schlechte oder hanebüchene Propagandafilme gedreht, sondern durchaus recht interessantes zuwege gebracht.

  • Ritter war technisch sehr versiert. Die Schlachtszenen in Unternehmen Michael sind zum Beispiel einsame Spitze. (Der Film ist überhaupt sehr gut.) Aber die Kriegsfilme ab 1939, Über alles in der Welt und Besatzung Dora, finde ich extrem schwach. Vor allem Besatzung Dora ist in Anbetracht der Kriegslage eine Katastrophe gewesen - vollkommen unverständlich, wie man einen solchen Film drehen konnte.