Wie bitte? Schon 75?

Zurück zur Übersichts-Seite

Datum: 22.03.2010 | Kategorie: Das Fernsehen und ich

75 Jahre Deutsches Fernsehen? So lange schon? Zuerst hatte ich mich gewundert, war doch die ARD meines Wissens nach die erste staatliche Fernsehanstalt. Und die wurde schließlich erst 1950 gegründet. Also erst 60 Jahre her, nicht 75. Vielleicht hatte sich jemand vertan und meinte Rundfunk anstatt Fernsehen? Doch Rundfunk wiederum gibt es schon länger als 75 Jahre. Passt also auch nicht. Also doch schon 75 Jahre Deutsches Fernsehen? Demnach musste es also schon vorher irgendwo in diesem unseren Lande einen Sender gegeben haben, der Fernsehsendungen ausstrahlte. Und zwar schon Mitte der 30er Jahre, als in Deutschland noch ein Wahnsinniger das Sagen hatte und meinte, eine elitäre Rasse erschaffen zu müssen.

Also das Recherchegerät angeworfen und im Internet nachgeschaut. Oberflächlich war erst nichts zu finden, auch nicht im W***pedia-Eintrag zur ARD. Aber dann schaute ich ganz simpel mal nach unter dem Begriff "Fernsehen" - und fand dort einen Namen, der mich so 1-2mal stutzen ließ: Paul Nipkow. Da war doch mal was? Irgendwas mit einer Scheibe oder so. Und schon ging es weiter, denn nachdem ich jetzt endlich den richtigen Faden in der Hand hatte, konnte ich mich daran erfolgreich weiterhangeln bis zum dem Ziel, das ich inzwischen fast schon verzweifelt suchte: Den ersten deutschen Fernsehsender.

Dieser besagte Paul Nipkow wird nämlich oft als der Erfinder des Fernsehens bezeichnet, weil er das grundlegende Prinzip erdacht hatte, indem er das zu übertragende Bild in viele, viele kleine Punkte zerlegt. Natürlich gab es damals keine Digitaltechnik oder Mikrochips, die diese Arbeit elektronisch erledigt hätten. Darum erfand er eine Scheibe, und zwar die "Nipkow'sche Scheibe", in die er spiralförmig viele, viele kleine Löcher stanzte und die durch schnelles Drehen das Bild in Bildpunkte zerlegen sollte. Und das schon Ende des 19. Jahrhunderts! Aber es war leider rein mechanisch, unterlag daher also den Trägheitsgesetzen und war demzufolge nicht wirklich leistungsfähig.

Doch nach und nach kamen auch andere Personen auf die Idee, das zu übertragende Bild in Punkte zu zerlegen, allerdings auf bessere und schnellere Art und Weise. Und so kam es, dass dann tatsächlich am 22. März 1935 mit der Ausstrahlung regelmäßiger Fernsehsendungen begonnen wurde. Der Sender wurde eine Woche später "Fernsehsender Paul Nipkow" benannt im Rahmen einer Feierstunde zum 75. Geburtstag Paul Nipkows. Und ein Jahr später wurden sogar die Olympischen Sommerspiele übertragen.

Ich war baff. Die Olympischen Sommerspiele waren schon 1936 im Fernsehen gezeigt worden? Wieso davon kaum etwas bekannt war, wurde mir aber deutlich, als ich weiter der Spur folgte. Es lag einfach daran, dass sich das Publikum, zumindest nicht der Mann von der Straße, ein solches Fernsehgerät leisten konnte. Damals lag der Verkaufspreis für einen neuen Volkswagen (natürlich der Käfer, denn es wurde noch kein anderes Modell produziert) bei 990 Reichsmark, obwohl die tatsächlichen Herstellungskosten mehr als doppelt soviel betrugen. Lag an dem Wahnsinnigen mit dem kleinen Bärtchen, der den Verkaufspreis vorschrieb, egal wie teuer die Herstellung war. Von Betriebswirtschaft hatte er also auch keine Ahnung. Und die Preise der damaligen Fernseher lagen - je nach Modell - zwischen 2.500 und 3.600 Reichsmark. Dafür konnte man also 3-4 Autos kaufen. Wenn ich jetzt mal den Verkaufspreis eines aktuellen Golf nehme (also einfach mal 17.000 schlappe Euros) und diesen mit 3,5 multipliziere, komme ich auf einen Betrag, bei dem mir schlecht wird, wenn ich daran denke, so teuer wäre heute ein Fernseher. Dann würden wir nämlich auch heute noch keine PCs haben, weil die Monitore einfach unbezahlbar wären.

Bei derartigen Preisen war es also undenkbar, dass viele Leute damals einen Fernseher ihr eigen nannten. Aber wer schaute dann damals eigentlich die Olympia-Übertragung? Und wer hatte damals überhaupt einen Fernseher? Selbst dazu fand ich die Antworten. Die Fernseher wurden damals nämlich in sogenannten öffentlichen Fernsehstuben betrieben, wo (je nach Größe des Raumes) bis zu 200 Leute zuschauen konnten. Die Menschen mussten damals aber verteufelt gute "uglein gehabt haben, denn der Bildschirm war sehr klein. Wenn man von einem heutigen DIN-A4-Blatt ein Drittel umknickt (also auf das seltene Format "2/3 DIN"), so ist das Blatt immer noch geringfügig größer als ein damaliger Fernsehbildschirm. Man kann sich also gut vorstellen, dass man selbst in einer kleinen Fernsehstube mit nur 50 Leuten nicht viel mehr als ein Hörspiel mit Flimmereffekt genießen konnte. Wobei täglich nur 4-6 Stunden gesendet wurde.

Ich bin froh und glücklich, dass der technische Fortschritt weiter anhielt, die Fernseher und die Bildschirme größer machte, die Bauteile und Preise jedoch immer kleiner. So kam ich als kleiner Bengel bereits in den Genuss, in die Flimmerkiste schauen zu dürfen. Inzwischen hatte sich nicht nur das Programmangebot erweitert, sondern auch die Senderliste. Man musste also gut überlegen, was man sehen wollte, angesichts der damaligen Programm- und Sendervielfalt. Es gab nämlich zwei, später sogar drei!

Wenn ich damals die ARD-"Kinderstunde" im Fernsehen schauen wollte (das ZDF gab es noch nicht, und das Dritte sendete erst ab Abend), musste ich rechtzeitig die Kiste einschalten. Und zwar mind. fünf Minuten vor der Sendung, denn es dauerte seine Zeit, bis sich auf dem Bildschirm etwas rührte. Nach dem Einschalten blinzelte mich erst einmal ein orangefarben glühendes Auge unterhalb des Bildschirms an. Jetzt konnte man noch schnell "für kleine Jungs" auf Toilette gehen, bevor sich wieder etwas rührte. Dann kam der Ton. Zuerst sehr leise, dann immer lauter, bis die eingestellte Lautstärke erreicht war. Und dann tauchte auch immer heller werdend das lang erwartete Bild auf dem Schirm auf.

Fasziniert saß ich damals vor diesem Wunderwerk der Technik, dass aus wenig Bildschirm und sehr viel Holz zu bestehen schien. In der oberen Hälfte des Fernsehschranks war der Bildschirm, der Lautsprecher nahm die untere Hälfte ein. Ich war in einem Märchenland und verfolgte die Abenteuer von Fury und Joe oder Lassie und Timmy, flog mit Clown Ferdinand in einer Rakete, oder schlief bei Luis Trenkers Erzählungen selig ein. Eine der liebsten Sendungen war für mich damals "Sport-Spiel-Spannung", die meiner Ansicht nach viel zu selten gesendet wurde. Einmal monatlich, glaube ich. Jeder Sendetag war fast schon ein Feiertag. Sammy Drechsel berichtete erst über Sport, danach führte Klaus Havenstein durch ein kleines Quiz, bevor abschließend ein kleiner Film (z.B. "Dick & Doof") gezeigt wurde. War toll gemacht. Einer meiner ersten Spielfilme, die ich damals sah, war ein Spielfilm über eine Zaubermurmel, die ein Junge gefunden hatte. Immer, wenn er sie rieb, fing sie von innen her an zu leuchten und er konnte damit zaubern. So wünschte er sich, dass seine kleine Spielzeugdampfwalze so groß wie eine echte sein sollte - und, schwupps, war sie groß. Dummerweise fiel dem Jungen die Zaubermurmel aus der Hand und sie wurde von der Dampfwalze überfahren. Aus der Traum.

Dann trugen eines Tages zwei Männer einen schweren Fernseher in unser Wohnzimmer. Darauf prangten drei Embleme in Blau-Rot-Grün - unser erster Farbfernseher. Schwerer als der Fernsehschrank, auf dem er stand. In den folgenden Jahren fuhr ich mit "Daktari" durch Afrika, hangelte mich mit "Tarzan" von Liane zu Liane, ritt bei "Am Fuß der blauen Berge", "Bronco" oder "Westlich von Santa Fé" durch den Wilden Westen, oder flog mit dem "Raumschiff Enterprise" in das Weltall. "Der Hase Cäsar" spielte mir Musik vor, das übernahmen später "Bettys Beat Box" und Ilja Richters "Disco". Mit der japanischen Serie "S.R.I. und die unheimlichen Fälle" machte ich meine ersten Schritte im Mystery-Genre. Faszinierend!

Das Fernsehen hat mich mein Leben lang begleitet. Und auch wenn es sich so anhört, als würde ich dauernd davorsitzen, muss man doch verstehen, dass es über viele Jahre so ging. Viele Serien zeigten nur eine Folge pro Woche, wie z. B. "Percy Stuart" am Mittwoch um 19:10 Uhr, während "Daktari", "Bonanza" oder "Raumschiff Enterprise" am Samstagabend zwischen 18 und 19 Uhr gezeigt wurden. Insgesamt waren es damals nur wenige Stunden pro Woche, denn man war ja noch mit Freunden unterwegs. Auf dem Fahrrad. Ohne Handy. Ohne dass einen die Eltern jederzeit erreichen konnten. Telefon? Ab und an standen Telefonzellen am Straßenrand, das reichte.

Im Laufe der Jahre wurde das Fernsehen auch für mich immer mehr zur allzeit laufenden Berieselungskiste, die das dauernd spielende Radio aus den 60ern und 70ern ablöste. Schließlich bekam man hier auch etwas fürs Auge. Und zwar fast kostenfrei (wenn man von GEZ absieht). Obwohl als Jugendlicher auch das Kino einen hohen Stellenwert hatte, so blieb angesichts des knappen Taschengeldes das Fernsehen immer noch erste Wahl. Und wo konnte man drei Rockbands hintereinander live und kostenfrei anschauen? Gemeinsam mit Freunden? Gemütlich und trocken in der eigenen Bude? Mit Cola und Chips? Klar, bei "RockPop in Concert"! Denke dabei immer noch gerne an Patti Smith zurück. Heute kaum mehr vorstellbar, dass damals die ganze Familie vor dem Fernseher versammelt war, um am Samstagnachmittag "Spiel ohne Grenzen" bzw. Samstagabend "Die Rudi Carrell Show" oder "Der Goldene Schuss" oder "Einer wird gewinnen" gemeinsam anzuschauen.

Was hätte ich ohne das Fernsehen gemacht? Tja, vielleicht viel mehr auf der Straße rumgehangen mit Freunden. Möglicherweise auch viel mehr Unsinn gemacht. Möglichkeiten gab es schließlich viele. Irgendwie hat mich das Fernsehen aber auch geleitet, denn in den Serien war oft von Mut, Ehrlichkeit, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft die Rede. Heute fallen eher Wörter wie Eliminieren, Terminieren, Massakrieren etc. Und zwar in Zeichentrickfilmen, die nicht für Erwachsene gedacht sind à la "Fritz the Cat", sondern in Animes, die schon die Kleinsten beeindrucken sollen.

Ob sie später auch vom Fernsehen so prägende Erinnerungen haben werden wie ich mit der Zaubermurmel, dem schielenden Löwen, dem Bären Ben, Clown Ferdinand, Zebulon, Pan Tau, Butler Parker und vielen, vielen anderen Figuren, die mir sagten, was Recht und Ordnung und Rücksicht ist? Irgendwie habe ich da meine Zweifel. Ich lasse mich einfach mal überraschen, was die nächsten Jahre noch auf der Mattscheibe angezeigt wird. Die unsäglichen Gerichts- und Talkshows dürften den aktuellen Tiefpunkt bilden. Von den Supermodel- oder Superstar-Such-Sendungen mal abgesehen. Kann also nur noch aufwärts gehen. Wie es wohl in 75 Jahren aussehen wird? Würde ich das wirklich noch sehen wollen? Ich bin jedenfalls froh, dass ich dank des Fernsehens (und natürlich dank meiner Eltern!) eine schöne Kindheit hatte, mit vielen angenehmen Erinnerungen an schöne Fernsehstunden. Danke an Paul Nipkow und alle anderen Erfinder und Entwickler des Fernsehens, ohne die ich diese Erinnerungen nicht hätte. Und auch nicht meinen PC. (gh)